Hinweis

Die Heldenreise nach Joseph Campbell basiert auf dessen Analyse verschiedener Mythen des Altertums. Das Konzept der Heldenreise ist meines Erachtens aber nicht neu, sondern basiert unter anderem auf der Gattung des Entwicklungsromans. Die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen Heldenreise und Entwicklungsroman sollen nachfolgend aufgezeigt und im Fazit der Bogen zur Führungslehre gezogen werden.

Entwicklungsroman

Der Entwicklungsroman[1] ist ein Romantypus, bei welchem die Auseinandersetzung des Protagonisten mit sich selbst und mit der Umwelt dargestellt wird. Der Held reflektiert die Ereignisse und die Erfahrungen helfen ihm, seine Persönlichkeit weiter zu entwickeln. Der Held wächst sozusagen über sich hinaus.

Als Entwicklungsroman werden […] alle erzählenden Werke verstanden, die das Problem der Auseinandersetzung des Einzelnen mit der jeweils geltenden Welt, seines allmählichen Reifens und Hineinwachsen in die Welt zum Gegenstand habe, wie immer Voraussetzung und Zieles Weges beschaffen sein mag.

Melitta Gerhard, 1968

Berühmte Entwicklungsromane sind beispielsweise der Simplicissimus (Grimmelshausen, 1668), Candide (Voltaire. 1759), Homo Faber (Max Frisch, 1957), Das Parfüm (Patrick Süskind, 1985).

Im Gegensatz zum Bildungsroman muss der Protagonist im Entwicklungsroman nicht zwingend einen höheren Bildungsstand erreichen. Die Heldenreise kann vielmehr auch zur persönlichen Entwicklung des Lesers beitragen, indem die Entwicklung des Protagonisten darstellt und erfahrbar gemacht wird. Der Prozess der Persönlichkeitsreifung führt so auch zu einer Entwicklung der Persönlichkeit des Lesers auf einer Metaebene. Beide Romangattung schildern aber als Gemeinsamkeit die seelische Entwicklung des Protagonisten in der Auseinandersetzung mit der Umwelt und sich selbst sowie ihren Reifeprozess durch die Verarbeitung eigener Erlebnisse und Erfahrungen. Im Gegensatz zum Bildungsroamn endet die Heldenreise nicht zwingend positiv, vielmehr kann somit auch ein neutraler Schuss oder gar das (finale) Scheitern des Protagonisten zur Persönlichkeitsentwicklung des Lesers beitragen. Die sogenannte Erbauungsliteratur, welche heute oft missverstanden wird, hat meines Erachtens auch ebendiese Heldenreise bezogen aber auf das Leben der Heiligen zu Gegenstand. Auch hier soll die persönliche Entwicklung des Lesers, grossmehrheitlich bezogen auf das tugendhafte und gottgefällige Leben, anhand der Heldenreise des Protagonisten gestärkt werden. Durch diese volksnahen und religiösen Schriften wurde die Volksfrömmigkeit gestärkt und der Leser zu einer Vervollkommnung des christlichen Tugendleben angeleitet.[2]

Heldenreise

Die Heldenreise im Buch «Heros in tausend Gestalten»[3] von Joseph Campbell beschäftigt sich nun ausführlich mit der Mythologie und Religion. Er beruft sich ebenso auf die Archetypen[4] von C. G. Jung, welche nach Jung zum kollektiven Unterbewusstsein gehören, vereinfacht diese und integriert sie als Figuren in die Heldenreise. Diese mythologischen Grundmuster münden zu guter Letzt in die Darstellung der Erzählstrategien und Erzählstrukturen von Christopher Vogler für Drehbuchschreiber, Romanautoren und Dramatiker.[5] Das Motiv der Heldenreise wird ausführlich durch Holger Lindemann in seinem Werk «Die grosse Methapern-Schatzkiste»[6] vertieft, ein Werk, das vor allem in dem systemischen Arbeiten in Sprachbildern im Rahmen der Mediation zur Anwendung kommt.

Heldenreise ist die Bezeichnung für den mythologischen, literarischen und cineastischen Erzählverlauf, dem die allermeisten Geschichten folgen. Die Grundstruktur der Heldenreise wurde Ende der 1940er Jahre durch den Literaturwissenschaftlern Joseph Campbell entwickelt. Er untersuchte zahlreiche Mythen, Legenden und Erzählungen und entdeckte eine ihnen gemeinsam zugrundeliegende Struktur.

Holger Lindemann, 2016

Die Heldenreise das Protagonisten kann nach Campbell wie folgt in 17 Schritten dargestellt werden:

  1. Der Ruf des Abenteuers (Berufung): Der Protagonist erkennt einen Mangel oder eine zu vollbringende Tat als Aufgabe.
  2. Weigerung: Der Protagonist ist unsicher, ob er seinen Status Quo aufgebeben und sich in die Unsicherheit begeben will. Nicht nur, aber auch Kylie Minoque kenne dies unter dem Begriff «Better the devil you know».
  3. Übernatürliche Hilfe: Der Protagonist trifft unerwartet auf einen oder mehrere Mentoren, die ihm zu Seite stehen.
  4. Das Überschreiten der ersten Schwelle: Er überwindet sein Zögern und macht sich auf die Reise. Der Protagonist lässt die Sicherheiten hinter sich und begibt sich auf seine Reise der Entwicklung.
  5. Der Bauch des Walfischs: Die Probleme, die dem Protagonisten gegenübertreten, drohen ihn zu überwältigen. Der Protagonist wird sich zum ersten Mal dem vollen Umfang der Aufgabe bewusst.
  6. Der Weg der Prüfungen: Auftreten von Problemen, die als Prüfungen interpretiert werden.
  7. Die Begegnung mit der Göttin: Dem Protagonisten wird die gegengeschlechtliche Macht offenbar.
  8. Die Frau als Versucherin: Als Alternative zum Weg des Protagonisten kann sich auch als vermeintlich sehr angenehme Zeit an der Seite einer (verführerischen) Frau offenbaren. Der Protagonist wiedersteht (mehr oder weniger) den Versuchungen und setzt seine Heldenreise fort.
  9. Versöhnung mit dem Vater: Die Erkenntnis steht dem Protagonisten bevor, dass er Teil einer genealogischen Kette ist. Er trägt das Erbe seiner Vorfahren in sich. Sein wahrer Gegner ist seine eigene Geschichte und Berufung.
  10. Apotheose: In der Verwirklichung der Heldenreise wird dem Protagonisten bewusst, dass er göttliches Potenzial in sich trägt. Der Protagonist ist selber dazu bestimmt, die Geschichte weiterzuentwickeln. Unter der Apotheose versteht man die Vergöttlichung, das heisst die Erhebung des (einfachen) Menschen zu einem Gott.
  11. Die endgültige Segnung: Der Empfang oder Raub eines Objektes (Symbol, Figure, Elixier etc.), der die zurückgelassene Welt des Protagonisten retten könnte. Dieser Schatz kann auch aus einer inneren Erfahrung bestehen, die durch einen äusserlichen Gegenstand symbolisiert wird.
  12. Verweigerung der Rückkehr: Der Protagonist zögert in die Welt des Alltags zurückzukehren.
  13. Die magische Flucht: Der Protagonist wird durch innere Beweggründe oder äusseren Zwang zur Rückkehr bewegt.
  14. Rettung von aussen: Eine Tat oder ein Gedanke des Protagonisten auf dem Hinweg werden nun zu seiner Rettung auf dem Rückweg. Eine gute Tat auf der Entwicklungsreise des Protagonisten zahlt sich nun aus.
  15. Rückkehr über die Schwelle: Der Protagonist überschreitet die Schwelle zur Alltagswelt, aus der er ursprünglich aufgebrochen war. Er trifft auf Unglauben oder Unverständnis und muss das auf der Heldenreise Gefundene oder Errungene in das Alltagsleben integrieren.
  16. Herr der zwei Welten: Der Protagonist vereint Alltagsleben mit seinem neugefundenen Wissen und damit die Welt seines Inneren mit den äusseren Anforderungen. Der Protagonist findet so seinen inneren Frieden durch die äussere Veränderung.
  17. Freiheit zum Leben: Das Elixier des Protagonisten hat die normale Welt verändert; indem er sein Umfeld an seinen Erfahrungen teilhaben lässt, hat er sie zu einer neuen Freiheit des Lebens geführt.

Die Heldenreise wird durch Vogler verkürzt in 12 Schritte[7] zusammengefasst:

  1. Ausgangspunkt ist die gewohnte, langweilige oder unzureichende Welt des Helden.
  2. Der Held wird durch einen Boten zum Abenteuer gerufen.
  3. Diesem Ruf verweigert er sich zunächst.
  4. Ein Mentor überredet ihn daraufhin, die Reise anzutreten, und das Abenteuer beginnt.
  5. Der Held überschreitet die erste Schwelle, nach der es kein Zurück mehr gibt. Die Heldenreise beginnt.
  6. Der Held wird vor erste Bewährungsproben gestellt und trifft dabei auf Verbündete und auch auf Feinde.
  7. Nun dringt er zum gefährlichsten Teil der Reise vor und trifft dabei auf seinen (wahren) Gegner.
  8. Hier findet die entscheidende Prüfung statt: Konfrontation und Überwindung des Gegners.
  9. Der Held kann nun den Schatz oder ein besonderes neues Wissen rauben.
  10. Er tritt den Rückweg an.
  11. Der Feind ist besiegt, das Elixier befindet sich in der Hand des Helden. Er ist durch das Abenteuer zu einer neuen Persönlichkeit gereift.
  12. Das Ende der Reise: Der Rückkehrer wird zu Hause mit Anerkennung belohnt.
Fazit

Die Heldenreise folgt somit den klassischen Entwicklungsstationen Trennung, Initiation und Rückkehr. Sie ist aus tiefenpsychologischer Sicht eine Reise in das Innere und handelt sich so um eine Selbstentwicklung. Jegliche Form von Veränderung kann anhand der Schritte der Heldenreise darstellt werden. Anhand der Systematik der Heldenreise können die Schritte im Rahmen einer «management by historical analogies» auch im Rahmen der Führungslehre integriert werden. Die historischen Begebenheiten dienen so dem individuellen Adressaten als Instrumentarium zum besseren Verständnis der eigenen Heldenreise in Form einer Meta-Ebene. Der Adressat wird zum Helden seiner eigenen Geschichte.

Quellen

Campbell, Joseph (2019): Der Heros in tausend Gestalten; Insel Verlag.
Jung, Carl Gustav (2001): Archetypen, DTP.
Gerhard, Mellita (1968): Der Deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes Wilhelm Meister; Niemeyer-Verlag.
Lindemann, Holger (2016): Die grosse Metaphern-Schatzkisten; Band 2: Die systemische Heldenreise; Vandenhoeck & Ruprecht.
Vogler, Christoph (2018): Die Odysee der Drehbuchschreiber, Romanautoren und Dramatiker; Autorenhaus Verlag.

Fussnoten

[1] Gerhard, Mellita (1968): Der Deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes Wilhelm Meister; Niemeyer-Verlag; S. 1.
[2] Siehe dazu auch Historisches Lexikon der Schweiz (HLS); Stichwort: Erbauungsliteratur; Zeller, Rosmarie. Online verfügbar unter https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011510/2006-12-14/ 25.11.2020.
[3] Campbell, Joseph (2019): Der Heros in tausend Gestalten; Insel Verlag.
[4] Jung, Carl Gustav (2001): Archetypen, DTP.
[5] Vogler, Christoph (2018): Die Odysee der Drehbuchschreiber, Romanautoren und Dramatiker; Autorenhaus Verlag.
[6] Lindemann, Holger (2016): Die grosse Metaphern-Schatzkisten; Band 2: Die systemische Heldenreise; Vandenhoeck & Ruprecht.
[7] Weitere Verkürzungen siehe Lindemann 2016, S. 16.

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