Hinweis

Der argentinische Schriftsteller und Bibliothekar Jorge Luis Borges schrieb in einem Aufsatz, er habe sich das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.[1] Dieses Paradies, welches Umberto Ecco als Antibibliothek bezeichnet hat, soll nun erforscht und der Sinn der ungelesenen Bücher auf einer Meta-Ebene ergründet werden.

Antibibliothek in der Nussschale

Tsundoku (japanisch 積 ん 読, für das Aufstapeln von Büchern)[2] umschreibt, dass man Bücher erwirbt, welche sich dann aber zu Hause stapeln, ohne gelesen zu werden. Die negative Konnotation dieser Umschreibung ist nicht von der Hand zu weisen. Meines Erachtens werden die Bücher ja erworben, nicht nur um sie später lesen zu können, sondern um sich auch am historischen Hintergrund und der haptischen Aussergewöhnlichkeit erfreuen zu können oder einfach zur Befriedigung der Sammlerleidenschaft. Der amerikanische Autor und Büchersammler A. Edward Newton (1864-1940) hatte eine Bibliothek mit über 10‘000 Büchern. Sein in Europa nahezu unbekanntes Werk aus dem Jahr 1918 mit dem Titel „Die Annehmlichkeiten des Büchersammelns und verwandte Neigungen“ (Originaltitel: The Amenities of Book-Collecting and Kindred Affections[3]) befasst sich mit den Freuden und Leiden eines Büchersammlers. Nach seinem Tod wurde seine ganze Sammlung verkauft und der dreibändige Newton-Katalog ist heute noch eine Quelle für viele Büchersammler von englischer und amerikanischer Literatur.

Ich halte den Kauf von mehr Büchern, als man vielleicht lesen kann, für nichts Geringeres als das Streben der Seele nach der Unendlichkeit; das ist das Einzige, was uns über die Tiere erhebt.

A. Edward Newton (1884-1940)

Dieses Streben der Seele nach Unendlichkeit hat auch Umberto Eco (1932-2016) zeitlebens beschäftigt. Seine umfangreiche Privatbibliothek wurde Anfang 2021 vom italienischen Ministerium für Kulturgüter und kulturelle Aktivitäten erworben. Für die über 30’000 Titel neuzeitlicher Werke soll in Bologna eine eigene nach Umberto Eco benannte Bibliothek als Teil der Universitätsbibliothek entstehen, in der auch sein Arbeitszimmer rekonstruiert werden soll. Die vor dem 20. Jahrhundert entstandenen Werke werden dagegen der Biblioteca Nazionale Braidense in Mailand eine neue Heimat finden. In seinen Schriften hat sich Eco gerne und oft zu Bibliotheken geäussert, prominent zum Beispiel in seinen Ausführungen zu Bibliothek[4] an sich aus dem Jahr 1987, in welchem er auch wieder Bezug zum oben erwähnten Borges nimmt.

Nasim Nicholas Taleb nimmt in seinem Werk „Der schwarze Schwan“[5] Bezug auf die Bibliothek von Eco und schreibt dazu:

Der Schriftsteller Umberto Eco gehört zu der kleinen Klasse von Akademikern, die enzyklopädisch, erkenntnisreich und nicht langweilig sind. Er besitzt eine grosse Privatbibliothek mit 30‘000 Büchern und unterteilt seine Besucher in zwei Kategorien: diejenigen mit „Oooooh! Signore professore dottore Eco, was für eine Bibliothek! Wie viele von diesen Büchern haben Sie denn gelesen?“ reagieren, und die anderen (eine sehr kleine Minderheit), die begreifen, dass eine Privatbibliothek kein Anhängsel zum Aufpolieren des Egos ist, sondern der Forschung dient. Gelesene Bücher sind längst nicht so wertvoll, wie ungelesene. Eine Bibliothek sollte so viel von dem, was man nicht weiss, enthalten, wie der Besitzer angesichts seiner finanziellen Mittel, der Hypothekenzahlungen und des derzeit angespannten Immobilienmarkts hineinstellen kann. Je älter er wird, desto mehr Wissen und Bücher wird er anhäufen, und die wachsende Zahl der ungelesenen Bücher in den Regalen wird ihn drohend anblicken. Die Reihen der ungelesenen Bücher werden sogar umso länger, je mehr er weiss. Eine derartige Sammlung ungelesener Bücher wollen wir Antibibliothek nehmen.

Nassim Nicholas Taleb in „Der Schwarze Schwan“ S. 17.

Die Antibibliothek von Eco ist somit ein Forschungsinstrument oder eine sogenannte Handbibliothek in der Form der Privatbibliothek. Die Befriedigung liegt darin, alles in Buchform zusammenzutragen und zu sammeln, was einem persönliche Freude macht und das Interesse weckt. Oder wie es Johann Wolfgang von Goethe seinen Mephistoles in Faust I sagen lässt: „Denn, was man schwarz auf weiss besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.“ Die Antibibliothek nach Eco ist somit eine Sammlung von all den Themen, in die man sich gerne vertiefen möchte. Eine Privatbibliothek reduziert zudem den allgegenwärtigen Dunning-Kruger-Effekt[6]. Dieser beschreibt die kognitive Verzerrung im Selbstverständnis inkompetenter Menschen, das eigene Wissen und Können zu überschätzen. Eine Privatbibliothek macht uns das bekannte Unbekannte deutlich und wir überschätzen uns nicht mangels Kenntnis des unbekannten Unbekannten. Der Schwarze Schwan versteckt sich somit zwischen den Buchrücken der ungelesenen Bücher und uns ist das wohl bewusst, auch wenn wir das Unbekannte noch nicht erfasst haben. Das unbekannte Unbekannte wird zum bekannten Unbekannten und dieses Wissen sorgt für Demut. Somit gilt die Frage nicht: „Haben Sie das alles gelesen?“. Das Erstaunen soll vielmehr der stillen Erkenntnis weichen, dass sich der Sammler und Forscher eine Privatbibliothek der ihn interessierenden Themen zusammengetragen hat und sich mit dem bekannten Unbekannten zu umgeben traut. Sokrates wird zugeschrieben gesagt zu haben: „Ich weiss, dass ich nichts weiss“ und dieses Nichtwissen steckt in jeder Antibibliothek. Es gilt: Ungelesene Bücher sind die visuelle Erinnerung an das, was man (noch) nicht weiss.[7]

Die Zeitung NZZ hat über Umberto Eco und seine Antibibliothek geschrieben:

Jedes einzelne Buch ist, mit anderen Worten, schon eine kleine Bibliothek in sich – und ein Forschungsprogramm, das einen zuweilen für viele Jahre in Anspruch nimmt. Am Ende eines Lebens, jedenfalls im Idealfall, weiss eine Leseratte alles, was sie jemals wissen wollte – und ist doch bereit, all die Bücher ihrer Bibliothek von neuem zu lesen. Frei nach Eco: Wer nicht liest, wird nicht ein einziges Leben gelebt haben. Wer aber liest wie Umberto Eco, hat viele Leben gelebt.

René Scheu, NZZ-Artikel vom 22.03.2016 mit dem Titel "Das Lesetier"
Quellen

[1] Blindheit, in: Borges, Jorge Luis (2001): Die letzte Reise des Odysseus, Fischer-TB, S. 188 im spanischen Original: „Siempre imaginé que el Paraíso sería algún tipo de biblioteca.“

[2] Susanne Lenz: Tsundoku: Die Kunst, Bücher zu kaufen und sie nicht zu lesen. In: Berliner Zeitung. 09.11.2020.

[3] Newton, A. Edward (1918): The Amenities of Book-Collecting and Kindred Affections.

[4] Eco, Umberto (1987): Die Bibliothek, Carl Hanser-Verlag München, siehe PDF

[5] Taleb, Nassim Nicholas (2008): Der Schwarze Schwan; Carl Hanser-Verlag Müchen.

[6] Siehe dazu online https://de.wikipedia.org/wiki/Dunning-Kruger-Effekt 07.11.2021.

[7] Vgl. dazu auch die Blogs https://fs.blog/the-antilibrary/ und https://nesslabs.com/antilibrary  07.11.2021.

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